Recht auf sich selbst

aus: W. A. Siebel Umgang Einführung in eine psychologische Erkenntnistheorie”, 5. Aufl. 2007, S. 140 ff.

11. Exkurs: Zum Thema “Recht”

Recht als denkbare Möglichkeit des geistigen Erfassens von Heil in Bezug auf Gerechtigkeit bedarf des Raumes eines Gemeinwesens und der Gefügtheit körperhaften Umgangs, um sich so zur Sprache zu bringen, daß durch das Recht selbst Erfahrung des Jasagens zur Menschlichkeit des Menschen den Menschen Weite von “leben” zu-darft und Inhalte so weist, daß der einzelne individuell antworten und sichten und damit per effectum sich offenbaren darf. Die Angewiesenheit des Rechts auf dieses Gemeinwesen, das das Recht intendiert, darf nicht als Abhängigkeit verstanden werden. Denn mehrheitlich beschlossenes unrechtmäßiges Handeln setzt das Recht nicht außer Kraft. Gleichzeitig gilt, daß die Angewiesenheit des einzelnen auf gemeinschaftlich rechtmäßiges Handeln nicht als Abhängigkeit verstanden werden darf, da dieses Mißverständnis Abhängigkeiten erst konstituiert.

Recht gründet sich seiner Existenz nach auf die Richtigkeit von Seiendem, der Wahrheit nach auf die Selbst-Verständlichkeit von Sein, das Seiendes erhält. Das heißt, Recht ist seiner formalen Struktur nach Ausdruck der Richtigkeit von allem, was sein darf, wobei dürfen als pathische Kategorie dem individuellen Seienden so widerfährt, daß ein menschlicher Entschluß dazu nicht Voraussetzung ist. Wenn menschliche Entscheidung oder menschlicher Entschluß an etwas beteiligt ist, das in Erscheinung tritt, handelt es sich:

a) bei rein menschlicher Beteiligung stets um eine Produktion, deren Nützlichkeit menschlichem Urteil unterliegt;

b) bei auch menschlicher Beteiligung um Folgen eines Engagements mit der Konsequenz, Inhalt des Engagements und Folgen zusammen einer Sinnprüfung unterziehen zu sollen.

Es ist bei in Erscheinung Getretenem deutlich zu unterscheiden zwischen natürlichen Folgen und menschlich intendierten Effekten. Recht gehört zu in Erscheinung Getretenem als Effekt des Gewordenseins aus natürlichen Gründen und braucht kein Gegenüber. Gerechtigkeit ist ein genuines Gefühl, das im Menschen ihm selbst gilt und dann erst per effectum auch anderen!

In Erscheinung Getretenes als Folge menschlicher Produktivität unterliegt der Konvention des Gemeinwesens, in dem produziert worden ist, und ist niemals in der Lage, Recht außer Kraft zu setzen. Das heißt: Verstößt das Ergebnis einer Produktion gegen das Recht, wird es nicht rechtmäßig dadurch, daß eine Mehrheit es für Recht hält oder eine sogenannte Autorität es für Recht erklärt!.

Das genuine Gefühl der Gerechtigkeit ist erst dann erfühlbar, wenn die Animation “Raum” (4) als Begegnung in einer Gemeinschaft über ihre Grenze geistig erfaßbar wird. Die Grenze des einen und die Grenze des anderen berühren sich. Hierdurch wird kein Mensch unzulässig begrenzt, vielmehr ist erst darüber der Raum zu er-fahren (was wäre ein Raum ohne Grenze?). Hier liegt aber auch die Möglichkeit, mit Hilfe einer geistigen Verweigerung (z.B. durch Nichthinzuschalten von Wissen) Gemeinschaft zu torpedieren, um darüber anderen den Raum für Erleben von Gerechtigkeit zu nehmen.

Wir möchten jedoch in diesem Zusammenhang wieder darauf hinweisen: Diese Blockaden gegenüber Sinnerfahrungen dienen immer der Verheimlichung der eigenen Liebesfähigkeit, die in der VA das Etikett der schuldhaften Empfindung erhalten hat. Sie sind in der Regel Folgen einer Vater-VA, der frau/man meint, entgangen zu sein. Sie kann also auch dann auftreten, wenn in der Kindheit kein Vater anwesend gewesen ist.

Wahrheit erlangen die Menschen im Bewußtsein über Informationen, also Außenimpulse, die in der Lage sind, die Weise der vom unterbewußten System gesteuerten Lebensgestaltung zu erklären: Wahrheit erklärt sich selbst und “löst” Hingabe. Wer sich von dieser Wahrheit entfernt, landet in der Sensatio Trauer durch Verweigerung der Klarheit. Die Entfernenden (sprich: die Trauernden) meinen, eine andere Erklärung zu brauchen und möchten die Wirklichkeit draußen und auch drinnen an ihre Vorstellungen anpassen, ohne zu berücksichtigen, daß eben diese Vor-Stellungen einmal von außen übernommen worden sind und den Blick auf die Wirklichkeit ver-stellen.

Alle Menschen können wissen, daß VA keine persönliche Schuld, kein Makel ist. Wer sich von dieser Wahrheit entfernt, schaltet mit bewußter Absicht bereits als irrtümlich enttarnte Ideen in seinem Denken hinzu und verdrängt absichtsvoll das Wissen um die Würde des Menschseins: er verweigert sich der Erfahrung von Heil wider besseres Wissen!

Wer nun sein tatsächlich vorhandenes inneres Vermögen nicht dazu fügen möchte, sich selbst Frucht zu sein, (d.h. sich selbst zu versorgen) vergrübelt sein “wollen”, regrediert auf eine perinatale Versorgungsstufe und deutet logische Folgen als Zwang. Dies zielt darauf, Zusammenhänge von Relationen so zu verwerten, daß anderen die Verantwortung für eigenes Handeln übertragen werden soll. Diese Kombination von Versorgungslage und Schuldfrage will andere zur Sorge bewegen, deren Lernfähigkeit blockieren und die Sklaverei wieder einführen nach dem Motto: Der andere ist nur richtig, wenn er meine Antworten übernimmt. Dabei ist der Sorger bzw. Nothelfer austauschbar, die Tat jedoch nicht. Das heißt: Wer für einen anderen dessen Antwort übernimmt und agiert, läßt sich auf eine Funktion reduzieren. Und dieser Funktion wird dann nach Vollzug als Tatereignis der “Charakter” einer sinngebenden Instanz zugedacht. Eine Tat als pseudosinngebende Instanz bedarf natürlich eines Täters; doch sie wird erst dann personalisiert, wenn sie vollbracht und die Schuldfrage zu eigenen Gunsten geklärt ist.

Die entscheidende Schwelle für die Öffnung des unterbewußten Systems ist also jene Blockade des genuinen Gefühls der Gerechtigkeit , mit dem wir die Weite von “leben” als einen Raum erfühlen können, in dem wir richtig sind. Dieses Gefühl kann in einer VA blockiert werden, wenn Mutter und Vater “passend” auf ein Kind einwirken. Das Ergebnis einer solchen Doppel-VA ist die permanente Sorge um das eigene Richtigsein, gekoppelt an die Idee, gezwungen zu sein, seine Existenzberechtigung erst noch nachweisen zu müssen (“noch nicht richtig”) oder zu tarnen, daß man eigentlich sowieso nicht richtig sei. Fehler müssen entschuldet werden, “gut-Dastehen” wird zum Lebensziel, oder es wird über das Nü-Tro-Syndrom (<5> die Rolle als “nützlicher Trottel” spielen nach dem Motto: “Wenn du schon mal da bist, kannst du dich auch nützlich machen”) Zuwendung erarbeitet.